- Das Thema Schuld, Gericht und Gerechtigkeit ist eines
derjenigen, die mich am meisten beschäftigen. Ich kann mich daran
erinnern, wie mich ein religiös aufgewachsenes Mädchen in der
Grundschule darauf ansprach, daß wir alle Schuld haben. Ich ging
darauf zu meiner Mutter und erzählte ihr das. Anschließend sagte
ich: „Mama, gell, ich habe keine Schuld?!“ Darauf beruhigte mich
meine Mutter damit, daß es Menschen gibt, die ihre Kinder sehr streng
religiös erziehen, daß sie das aber nicht gut fände.
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- Heute weiß ich sehr wohl, daß ich Schuld habe. Ich
meine damit nicht Schuld in dem Sinne, daß ich schon vor Gericht war,
sondern Schuld vor Gott. Meine schlimmste „weltliche“ Bestrafung
bestand bisher darin (und ich hoffe, das ändert sich auch möglichst
lange nicht), daß ich einmal 20 DM für eine S-Bahn-Fahrt ohne gültigen
Fahrausweis berappen mußte. Das kam so: Ich hatte als Student immer
eine Monats- oder Semesterkarte, die für mehrere Monate gültig war.
In den Semesterferien kam es mal vor, daß ich einen Monat lang nur für
ein paar Tage an die Uni mußte, so daß sich eine Monatskarte nicht
lohnte. Ich hatte Angst, zu vergessen, meine Mehrfahrtenkarte zu
entwerten, da ich das ja wegen der Monatskarte nicht gewohnt war.
Einmal hastete ich in den Zug und entwertete auch am Bahnsteig meine
Mehrfahrtenkarte. Als ich im Zug war kam auch prompt eine Kontrolle.
Ich war froh, daß ich nicht vergessen hatte, die Karte zu entwerten,
und zeigte sie vor. Doch als die Kontrolleurin länger und länger auf
die Karte starrte, merkte ich, daß ich etwas falsch gemacht hatte –
doch was? Dann kam es raus: Ich hatte die Karte einmal doppelt
abgestempelt, da die erste Abstempelung unleserlich und verblichen
war. Trotzdem forderte man von mir 60 DM. Ich ging daraufhin zur
Beschwerdestelle, wo ich mit 20 DM davonkam, weil ich nicht ohne
Fahrausweis, sondern nur ohne gültigen Fahrausweis fuhr, und weil es
das erste Mal war. Seitdem habe ich oft Angst, meine Fahrkarte zu
vergessen, auch wenn ich nicht Zug fahre. Wenn dies mal vorkommt, und
ich es merke, stempele ich sie im Nachhinein ab. Das wird mir zwar
kaum ein Kontrolleur glauben, aber wenn ich doch noch mal erwischt
werden sollte, dann kann ich mir sagen: Ich bin eigentlich unschuldig,
ich muß mir nichts vorwerfen. So werde ich dann nur einmal verurteilt
(vom Kontrolleur) und nicht auch noch durch mein Gewissen. Außerdem
hoffe ich, daß wenn ich doch noch mal meine Karte vergesse, der
Kontrolleur dann gerade nicht in meinem Wagen ist.
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- Ich möchte nicht verschweigen, daß es noch ein paar
andere mehr oder weniger "normale" Dinge gibt, wo ich mich
"irdisch" gesehen falsch verhalten habe, aber eben nicht
dafür bestraft worden bin.
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- Diese und andere Begebenheiten ließen mich lange und
intensiv darüber nachdenken, was denn eigentlich „gerecht“ ist.
Warum kostet Schwarzfahren ausgerechnet 60DM? Warum nicht 55? Oder 63,49?
- Nun, es ist wohl
praktisch, einen glatten Betrag zu kassieren. Aber warum gelten die
60DM (heute 40Euro) für jeden gleich? Für den Sozialhilfeempfänger
wie für den Multimillionär? Müßte nicht der erstere 40 Cents und
der letztere 400 Euro bezahlen? Und es gibt Menschen, die fahren
systematisch schwarz, „man darf sich halt nicht erwischen lassen“.
Und andere tun es nur aus Versehen. Was ist gerecht?
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- Nun, die Bahn erhebt wohl keinen Anspruch,
„gerecht“ zu sein. Auch die Fahrpreise gelten ja gleich für Arm
und Reich. Und es wird auch nicht unterschieden, ob ein Mensch glücklich
verheiratet ist oder gerade seine Frau oder sein Kind verloren hat.
Unsere Welt ist eben ungerecht, man kann lediglich den Versuch machen,
gerecht zu sein.
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- Eine Bekannte hat mir dazu einmal folgendes gesagt:
„Wenn eine Strafe bekannt ist, dann ist sie auch gerecht, egal wie
hoch sie ist!“ Also: Wenn jeder weiß, daß Schwarzfahren 100.000
Euro kostet, dann soll das gerecht sein! Ich konnte dem beim besten
Willen nicht zustimmen, aber sie ließ sich nicht überzeugen. Jeder
wisse ja, worauf er sich einlasse, meinte sie.
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- Was ist meine Vorstellung von Gerechtigkeit?
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- Bleiben wir beim Thema „Schwarzfahren“. Nehmen
wir vereinfachend an, jeder würde gleich viel verdienen. Dann empfände
ich folgendes als gerecht: Wer aus Versehen schwarzfährt, der hätte
es verdient, bei einer Kontrolle lediglich den normalen Fahrpreis zu
bezahlen – inklusive aller bisher „vergessenen“ Fahrscheine. Wer
mit Absicht schwarzfährt, der hat meiner Ansicht nach den doppelten
Fahrpreis verdient – ebenfalls inklusive aller bisherigen
Schwarzfahrten, mit Zins und Zinseszins, wohlgemerkt. Ähnlich scheint
wohl auch die Bahn zu denken, da sie ja weiß, daß bei weitem nicht
jede Schwarzfahrt entdeckt wird (insbesondere in den S-Bahnen, wo eher
selten kontrolliert wird). Insofern sind die 40 Euro dann doch wieder
einigermaßen „gerecht“. Vorsätzliches Schwarzfahren kann zudem
strafrechtliche Folgen haben.
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- Problematisch wird es dann, wenn man noch das
Einkommen, den Gesundheitszustand, die seelische Verfassung usw. des
„Täters“ berücksichtigen will. Eine wirkliche Gerechtigkeit kann
es da nicht geben. Man muß daher zwischen Gerechtigkeit und
Rechtsprechung unterscheiden. Rechtsprechung ist das, was der
jeweilige Gesetzgeber zur jeweiligen Zeit als „gerecht“ definiert.
In Deutschland kann das anders sein als in den USA oder in
Saudi-Arabien. Und im Jahre 1900 war es ganz anders als 1940 oder
1980, im Jahr 2020 wird es wieder anders sein.
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- Doch was ist nun „wirklich“ bzw. „objektiv"
gerecht? Wenn man diese Frage beantworten will, dann muß man sich
fragen, wer den das Recht hat, objektiv darüber zu urteilen. Und dann
stellt sich schnell die Frage nach Gott! Wir Menschen können wohl mit
Sicherheit nicht „objektiv gerecht“ sein. Am ehesten geht das
noch, wenn sich der Täter und das Opfer einigen können – wenn
beide die vereinbarte Strafe als „gerecht“ akzeptieren. Aber
nehmen wir z.B. an, ein Mann habe einem anderen 100 Euro gestohlen.
Das seelische Leid, was der Bestohlene empfindet, ist nicht unbedingt
wieder gut gemacht, wenn er am nächsten Tag die 100 Euro
wiederbekommt.
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- Auch muß man unterscheiden, aus wessen Sichtweise
ein Urteil gerecht sein soll. Nehmen wir an, ein Top-Manager, der 10
Millionen Euro auf dem Konto hat und jeden Monat 100.000 Euro netto
hinzuverdient, fliegt in ein armes Land. Ein bettelarmes Straßenkind,
das von einem Euro pro Tag leben muß, schlägt ihm kräftig ins
Gesicht, so daß er einen Tag nicht arbeitsfähig ist. Welche Strafe
ist hier gerecht?
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- Aus der Sicht des Managers sieht die Sache so aus: Er
verdient 100.000 Euro im Monat, also ca. 3300 Euro am Tag. Er leidet
unter dem Schlag einen Tag und kann so lange nicht arbeiten – macht
3300 Euro (vom Schmerzensgeld einmal abgesehen).
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- Aus der Sicht des Straßenkindes verhält es sich
anders: Es muß von einem
Euro pro Tag leben. Es wurde schon 100 mal im Leben verprügelt, ohne
Entschädigung. Wenn es dem Manager 3300 Euro zahlen soll, und es sich
von seinem Euro 10
Cent am Tag erspart, dann muß es 33.000 Tage sparen, das sind rund 90
Jahre! Es muß also sein Leben lang dafür büßen, daß es einmal
einem Reichen ins Gesicht geschlagen hat!
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- Wem würden Sie Recht geben?
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- Zum Glück gibt es neben der Gerechtigkeit auch noch
etwas anderes: Die Vergebung, die Barmherzigkeit, die Gnade – die
beiden letzten sind Worte, die kaum noch in unserem Wortschatz zu
finden sind. Der Manager könnte vielleicht darüber nachdenken, warum
das Kind ihn geschlagen hat. Warum ist er nicht in dem armen Land
aufgewachsen und das Kind verdient jeden Monat ein Vermögen? Er könnte
dem Kind verzeihen – selbst wenn das Kind ihm nur ein Prozent der
3300 Euro zahlen würde, so müßte es immer noch ein Jahr lang
sparen! Kann er das wirklich wollen? Was sind denn für ihn 33 Euro!
Bei einem 8-Stunden-Tag gerade mal fünf
Minuten. Soll er das Kind für 5 Minuten ein Jahr lang büßen
lassen?
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- Ich habe vorhin kurz Gott erwähnt. Auch Gott hat
eine Vorstellung von Gerechtigkeit, die zum Teil anders ist, als wir
empfinden:
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- „Wenn sich aber der Gottlose bekehrt von allen
seinen Sünden, die er getan hat, und hält alle meine Gesetze und übt
Recht und Gerechtigkeit, so soll er am Leben bleiben und nicht
sterben. Es soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat,
nicht gedacht werden, sondern er soll am Leben bleiben um der
Gerechtigkeit willen, die er getan hat. Meinst du, daß ich Gefallen
habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der Herr, und nicht viel mehr
daran, daß er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt? Und
wenn sich der Gerechte abkehrt von seiner Gerechtigkeit und tut
Unrecht und lebt nach allen Greueln, die der Gottlose tut, sollte der
am Leben bleiben? An alle seine Gerechtigkeit, die er getan hat, soll
nicht gedacht werden, sondern in seiner Übertretung und Sünde, die
er getan hat, soll er sterben.“ (Hesekiel
18, 21-24).
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- Dann gibt es Stellen, die wirklich schwer zu
verstehen sind, z.B. „Denn so jemand das ganze Gesetz hält und sündigt
an einem, der ist’s ganz schuldig.“ (Jakobus 2,10). Heißt
das, daß wir alle gleich vor Gott schuldig sind und sogar die Hölle
verdient haben, egal, ob wir einmal
gelogen haben oder ob wir einen Mord begangen haben? Genau so hat mir
mal ein Pietist diese Stelle ausgelegt!
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- Ich versuche es so zu verstehen: Nehmen wir an, unser
Leben sei eine Waage mit zwei Waagschalen. Wenn ein Mensch das erste
Mal sündigt, also z.B. wenn ein Kind das erste Mal lügt, dann kommt
ein Gewichtsstück auf diese Waage. Die Waage hat nach der Seite der
Schuld ausgeschlagen. Ob da nun Tausend oder ein Gewicht liegen, die Waage
ist nicht mehr ausgeglichen.
- Nun kann man ja dagegenhalten, daß wohl jeder Mensch auch
Gutes im Leben hat, daß man also seine Sünden wieder gut machen
kann, z.B. durch gute Werke. In der Tat heißt es "die
Liebe deckt auch der Sünden Menge" (1.Petrus 4,8). Nach der Lehre des Karmas, die im Hinduismus und
Buddhismus verbreitet ist, können wir auch nur auf diesem Weg vor dem
Schicksal gerecht werden, indem wir unsere Sünden durch gute Werke
tilgen.
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- Nach der
Bibel können wir unsere Schuld vor Gott nicht aus eigener Kraft
tilgen, da sie viel schwerer wiegt, als wir es denken. Wir können
jedoch Jesus um Vergebung bitten und seine Erlösungstat für uns
annehmen. Dann sind uns auch die schlimmsten unsere Sünden vergeben,
und die eine oder andere Sünde, die auch jeder Mensch nach seiner
Bekehrung noch begeht,
wird uns vor Gott nicht angerechnet. Die Werke aber, die wir tun,
sollen keine Rechtfertigung vor Gott sein, sondern aus Liebe
geschehen. Wir kommen als Christen also nicht in das Gericht Gottes,
wo wir unbarmherzig jede Sünde tragen müssen, sondern wir leben
unter der Gnade Gottes, weil wir statt der Gerechtigkeit die
Barmherzigkeit Gottes annehmen.
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- Martin
Wagner, 8.2.2003
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